Suworow in der Schweiz
Kurze Geschichte des Feldzuges der russischen Armee durch die Schweiz 1799

von Anthony und Maria Boulter,
deutsche Übersetzung von Franz Camenzind und Anette Nef
Im September 1799 wuchsen die Mannschaftsbestände der Französischen Armeen unter dem Oberkommando von General André Masséna in der Schweiz auf über 70'000 Mann an. Die russischen und österreichischen Truppen dagegen zählten nur 46'000.
Auf Suworow wartete eine schwierige Aufgabe: mit einer Armee von 20'000 Mann (mit Tieren, Waffen, Munition, Nahrung für die Männer, Futter für die Pferde und alle anderen wichtigen Ausrüstung) die Schweizer Alpenpässe, welche von den Franzosen kontrolliert wurden, überqueren und sich mit dem Corps von Rimsky-Korsakow vereinen. Dieser war von seinen österreichischen "Bündnispartnern" alleine in der Nähe von Zürich gegen die wachsende Übermacht Massénas zurückgelassen worden, denn diese hatten die Ankunft der Armee Suworows nicht abgewartet und ihre Armeen von die Schweiz nach Nordrhein abgezogen.

Im Tessin hatten die Österreicher versprochen, die russische Armee mit allem Notwendigen für die Alpenüberquerung auszurüsten, unter anderem mit 2'000 Maultiere, um alles zu tragen. Aber das Versprechen wurde nicht gehalten und dennoch musste Suworow seine 1500 Kosakentruppen befehlen, von ihren Pferden abzusteigen, so dass deren Pferde zum Transport zur Verfügung standen. Die im Tessin erlittene Verspätung von sechs Tagen sollte zum Schicksalsschlag werden...
St. Gotthard und die Teufelsbrücke
Am 24. September gelangte die Armee Suworows auf den Gotthardpass (2108 m), der vom französischen Divisionsgeneral Claude Lecourbe, einem Experten im Gebirgskrieg, verteidigt wurde. Um die Franzosen strategisch zu umgehen, schickte Suworow die Abteilungen Rosenberg und Bagration aussen um den Gotthardpass über die leichter zugänglichen Pässe Lukmanier (1914 m) und Oberalp (2044 m), während er selbst grifft mit den Hauptkräften der Armee die Front an. Doch der Hauptangriff erlahmte, denn der enge Passweg stand unter Dauerfeuer der Schützen Lecourbes. Erst gegen Abend, als Abteilung Bagration auf der linken Flanke die Franzosen umzingelt hatte, war der Gotthardpass endlich in den Händen Suworows.

Nachdem dem Nachtlager mit seinem Stab im Hospiz von Hospental führte Suworow den Marsch weiter. Der Armee stand bevor, einen in die Felsen gehauenen Tunnel zu durchqueren und dann die unter dem Namen Teufelsbrücke berühmt gewordene Steinbrücke zwischen den jähen Felswänden über einer tiefen Schlucht zu überqueren. Sobald die russischen Kolonne aus dem Tunnel kam, eröffneten die Franzosen das Artilleriefeuer und sprengten einen Teil des Mauerwerks in der Steinbrücke. Um die Teufelsbrücke und den entstandenen Einsturz entbrannte ein erbitterter Kampf. Der Schaden war gross und es wurde jeglicher weiterer Vormarsch Seiten der Russen verhindert. Unter Dauerfeuer schlossen die Soldaten Suworows mit Holzprügeln aus zerstörten Ställen die Lücke, indem sie die Holzbrücke mit ihren Gurten und mit den Schärpen der Offiziere zusammenbanden. Unerwartet tauchte da im Rücken der heftig kämpfenden Franzosen die Abteilung von Major Trevogin auf. Diese bestand aus 200 russischen Schützen, die Suworow in weiser Voraussicht auf den Umweg durch die Felsen ausgeschickt hatte, um die Positionen der Franzosen zu erkunden. Sie war es, die die Franzosen schliesslich zwang zu weichen. Eine Reihe französischer Kräfte ergab sich, die anderen zogen sich zurück.
Suworow im Kanton Schwyz: Zwei Pässe — Kinzig and Pragel
Auf der Verfolgungsjagd der französischen Truppen gelangte die russische Armee nach Altdorf, das nahe am Ostzipfel des Vierwaldstättersees liegt. Dann, ein paar Kilometer weiter am See entlang, in Flüelen, stellte Suworow fest, dass alle Boote auf dem See durch die Franzosen entweder entfernt oder gar zerstört worden waren. Er fand auch heraus, dass es entgegen den Zusicherungen der Österreicher keine befahrbare Strasse dem See entlang nach Schwyz gab, sondern nur einen schmalen Fusspfad, der nur in Einerkolonne beschritten werden konnte.
In der Zwischenzeit verstärkte der französische General Masséna die Garnison vor Ort und stellte Suworow eine Falle, nachdem er von dessen Vorrücken nach Schwyz erfahren hatte. Suworow wusste noch immer nichts von Rimsky-Korsakows Niederlage oder vom Rückzug der Österreicher. Er entschied sich für den kürzesten Weg nach Zürich: entlang des Bergrückens des Rossstocks und über den Kinzigpass (2'089 m).
Am 27. September rückte Bagrations Abteilung als erste aus Richtung Pass vor. Nach dem Aufbruch um 5 Uhr morgens vertrieben sie mit ihren Bajonetten zwei französische Bataillone, die die Strasse zum Pass blockiert hatten.
Die ganze 18 km lange Überquerung des Kinzigpasses war unglaublich schwierig und dauerte drei Tage. Die Armee musste über enge Bergpfade ziehen, wo nur Bergziegen hausten. Im Wechsel von Schneestürmen, dichtem Nebel, Sturzregen und beissenden Frostwinden zogen sie schliesslich hinunter ins Muotathal, während die Soldaten ihre Kanonen mit Seilen die steilen, eisigen Hänge hinunterliessen, ihre Füsse so gut es ging im steilen Schnee verankert.

Am 29. September erreichte die Armee sicher den Talboden, doch dort fanden sie nicht etwa ihre Verbündeten vor, die Österreicher, sondern noch mehr französische Truppen. Wieder war der einzige Talausgang nach Schwyz von den Franzosen blockiert. Und nicht genug der Pein, Suworow erfuhr jetzt von Rimsky-Korsakows Niederlage bei Dietikon vor Zürich und von der österreichischen Niederlage an der Linth.
Folgendes war passiert: General Masséna hatte von einem Spion in den Hauptquartieren der Russen erfahren, dass Rimsky-Korsakow am 26. September in die Offensive gehen wollte. Sofort setzte er zu einem Präventivschlag gegen beide an: gegen die Russen bei Zürich und gegen die Österreicher unter deren Kommandanten General Friederich Hotze an der Lindt bei Glarus. In der Nacht vor der geplanten russischen Attacke wurden Stosstrupps vorausgeschickt, um die russischen Patrouillen lautlos mit Bajonetten zu beseitigen, damit der Hauptharst Massénas Truppen über den Fluss Limmat übersetzen konnte, ohne dass Alarm geschlagen wurde. Bevor sie wussten, wie ihnen geschah, befanden sich so beide alliierten Armeen unter Beschuss. Im Verlaufe der folgenden zwei Tage erlitten die Verbündeten eine vernichtende Niederlage, und die meisten derjenigen, die nicht in der Schlacht getötet wurden, gaben sofort auf. Die Verluste der Alliierten beliefen sich auf etwa 9‘000 Mann, unter ihnen war Hotze selbst, der wenige Minuten nach Schlachtbeginn in einem Hinterhalt getötet wurde. Die Überreste der alliierten Streitkräfte zogen sich über den Rhein zurück, die Russen nordwärts nach Schaffhausen, die Österreicher ostwärts nach Liechtenstein. Die Franzosen hatten jetzt eine zahlenmässige Überlegenheit über Suworows Kräfte im Verhältnis vier zu eins, und er schien dazu noch im Muotathal in der Falle zu sitzen.

Nach solch einer katastrophalen Niederlage seiner verbündeten Kollegen erkannte Suworow, dass es keinen Sinn machte, den Feldzug allein weiterzuführen. Im Franziskanerinnenkloster Muotathal hielt er eine flammende Rede vor seinem Militärrat. Jedermann war beeindruckt. Gemäss Bagration soll er, zu Prinz Konstantin gewendet, folgendes gesagt haben: "Wir sind umgeben von Bergen……. und ebenso umzingelt von einem starken und selbstbewussten, durch seinen Sieg bestärkten Feind. Wir können jetzt keine Hilfe erwarten von irgendjemandem, aber wir können auf zwei Dinge hoffen Gottes Vorsehung und den grenzenlosen Mut und die selbstlose Aufopferung unserer Truppen unter eurer Führung. Wir stehen vor einer noch nie dagewesenen Aufgabe in der Geschichte. Wir stehen vor einem Abgrund. Aber wir sind Russen. Gott ist mit uns!"
Nachdem die Niederlage der Verbündeten bestätigt war, entschied sich Suworow am 29. September für den Versuch, zu den verbliebenen befreundeten Streitkräften aufzuschliessen. Der einzige übriggebliebene Weg führte nach Osten, über den Pragelpass (1550 m), also setzte sich die Armee in diese Richtung in Bewegung. Dennoch wurden sie ständig von den Franzosen belästigt. Die erste Attacke am 30. September in Muotathal wurde von den Russen zurückgeschlagen. Frustriert machte sich Masséna persönlich auf, um den nächsten Angriff zu führen.
Am Morgen des 1. Oktober versuchten es die Franzosen erneut. General Rosenberg, auf dessen Streitkräfte die Attacke traf, war darauf vorbereitet und hatte eine starke Verteidigung auf drei Linien aufgestellt. Offenbar hatten die Russen nicht die Absicht, sich durch die Angriffe ihren eigenen Plan verderben zu lassen, und alle Truppen, die nicht direkt an der Schlacht beteiligt waren, zogen sich zurück. Als die Franzosen das sahen, preschten sie vorwärts, ermutigt durch die Gegenwart ihres Oberbefehlshabers. Doch die Russen gaben nicht nach, es gelang ihnen, die Franzosen von hinten in die Zange zu nehmen und drei Geschütze und eine grosse Zahl Kriegsgefangener in ihre Gewalt zu bringen. Nun gingen die Russen zum Angriff über und bald schon war die französische Nachhut aufgerieben und die Überreste der französischen Streitkräfte stürzten in völliger Auflösung über die enge Muotabrücke (heute Suworowbrücke) in die Flucht.

Masséna war gezwungen, seine verbliebenen Truppen nach Schwyz zu beordern, denn sie waren gerade stark genug, den Ort zu halten, obwohl die zweite Schlacht im Muotathal eine schwere Niederlage für die Franzosen war. Masséna selbst entging nur knapp der Kriegsgefangenschaft.
Während seine Nachhut zweimal so viele französische Soldaten zurückschlug, führte Suworow seine Armee über den Pragelpass in den Kanton Glarus, wo jedoch noch mehr französische Truppen warteten.
Der letzte Schweizer Pass — Panixer
Suworow erkämpfte sich seinen Weg dem Klöntalersee entlang bis nach Glarus, das er auch einnehmen konnte. Er konnte aber nicht weiter zu seinen Verbündeten aufrücken, da der Talausgang von den Franzosen blockiert wurde und ohne schwere Artillerie würde er die niemals überwinden können. Die schwere Artillerie hatte er aber bei all den Passüberquerungen verloren. Wieder war der einzig übriggebliebene Weg im Süden über den hohen Panixerpass (2'407 m).
Dieser Übergang war für die Armee Suworows wohl der allerschwierigste. All jenen Soldaten und Offizieren, die bisher jede Härte überstanden hatten, blieb dies als die schrecklichste Prüfung an Willenskraft und Körperstärke in Erinnerung. Unerwartet war frischer, tiefer Schnee gefallen und der Bergpfad war nicht einmal sichtbar. Die meisten Bergführer ergriffen die Flucht und die Armee bewegte sich blindlings durch schweren Schneefall und eisige Kälte.

Am 6. Oktober zogen die russischen Truppen los von Elm, und am 8. Oktober erreichte Suworows Armee endlich Chur, wo sie auf die österreichischen Verbündeten unter General Aufenberg stiessen. Die russischen Truppen boten ein bemitleidenswertes Bild: die meisten Offiziere hatten keine Sohlen mehr an ihren Stiefeln und die Uniformen der Soldaten hingen in Fetzen. Suworow hatte mehr als ein Drittel seiner Armee verloren, verhungert, erfroren, abgestürzt in den Felswänden. Die meisten seiner Kanonengeschütze waren weg. Während des ganzen Feldzuges hatten die russischen Truppen für alles, was sie von den lokalen Bevölkerung bekommen hatten, bezahlt, was unter den europäischen Armeen bei weitem nicht der Brauch war. Obwohl Suworow all seinen Nachschub und seine Artillerie verloren hatte, liess er all die 1‘418 französischen Kriegsgefangenen am Leben und übergab sie in Chur den Österreichern.

Nach zwei Ruhetagen verschoben sich die russischen Truppen dem Rhein entlang und machten am 12. Oktober Lagerhalt beim Dorf Altenstadt. Die Soldaten konnten mehrere Tage ausruhen, sich waschen, mit neuen Kleidern und Schuhen ausrüsten und essen, um sich dann wieder auf den Marsch zu machen. Doch am 22. Oktober beorderte der russische Zar Paul I sie zurück nach Russland. Der Schweiz- Feldzug war vorbei. Die russische Armee hatte sechs Alpenpässe überquert: Sankt Gotthard, Lukmanier, Oberalp, Kinzig, Pragel und Panixer. Der Feldzug war ein Misserfolg, und doch erlitt Suworow nicht eine einzige Niederlage.
Trotz alledem ist der russischen Waffenehre in diesem Feldzug kein Abbruch getan worden. Sogar André Masséna räumte später ein, dass er all seine 48 Feldzüge tauschen würde, um einen einzigen zu führen wie diesen 17-Tage-Marsch von Suworow.